Was soll man Ende 2022 schreiben?
Was soll man nach so einem Jahr sagen oder schreiben? Verschlägt es einem angesichts von Krieg, Not und Elend nicht die Sprache? Wie sollen oder wollen wir miteinander umgehen?
Was sollen oder wollen wir einander oder uns überhaupt noch wünschen?
„Wer etwas zu sagen hat, der trete vor und schweige.“ Das hat Karl Kraus am Beginn des Ersten Weltkriegs in seinen Vorlesungen verlangt. Und wusste dabei noch gar nicht, dass das, was man damals den „Großen Krieg“ nannte, erst die Erste von den beiden Vollkatastrophen des 20. Jahrhunderts sein würde.
Man muss nicht der große Prophet des Untergangs des Abendlandes sein, um in Zeiten wie diesen an jenes Szenario zu denken, das mit „schlafwandlerischer“ (Christopher Clark) Gewissheit an den Ausbruch des „Großen Krieges“ 1914 geführt hat. So wie damals plagen uns auch heute eine grauenhafte Verengung von Perspektiven, ein schwarz/weiß-Denken und der Wegfall von Nuancen und Schattierungen, von Farbklecksen und von Phantasien zwischen den Polen Null und Eins.
So wie im Ersten Weltkrieg, der über weite Strecken ein Stellungskrieg ohne wesentliche Geländegewinne gewesen ist, gibt es auch jetzt eine Stadt in der Ukraine, in der sich seit Beginn des russischen Angriffskriegs die Kontrahenten in Schützengräben eingegraben haben und die Soldaten auf beiden Seiten Krankheiten entwickeln, die es zuletzt vor über 100 Jahren gegeben hat („trench feet“).
Wenn wir den Blick von den Bildschirmen und unsere Wahrnehmungen von den Flüchtlingen und den beschämenden Zelten, in denen sie auf widerliche Art untergebracht werden, wegbewegen (nur für ein paar Augenblicke und nicht, um diese Bilder zu verdrängen): Was sehen wir da? Würden wir da nicht auch erkennen, wie armselig wir miteinander umgehen, wie reduziert unsere Blickwinkel geworden sind und wie unachtsam unsere Kommunikation?
Eine schmerzhafte gesundheitliche Tücke hat mich für vier Wochen ins Krankenhaus manövriert und mir gezeigt, wie unglaublich abhängig „der Mensch“ von Kontakt und Kommunikation ist und bleibt. Drei Tage, in denen ich wegen eines Versehens irrtümlich auf der Covid-Isolierstation gelandet bin, haben mich aufmerksam gemacht, wie es Menschen geht, die wirklich so krank sind, dass sie isoliert werden müssen. Wie abgeschieden man ist, wenn man nichts anderes will, als seinen Kopf an die Schulter eines liebevollen Menschen zu legen und das aus strengem Reglement nicht erlaubt ist. Was wünscht man sich und anderen in so einer Situation?
Dass die anderen Menschen zuhören und nicht reflexartig ihre Schablonen ausfahren, in die sie den Mitmenschen pressen wollen. Dass das Zuhören zum Lernen da ist und nicht zum Aufrüsten der eigenen Gegenargumente. Dass Fragen gestellt werden, auf die man wirkliche Antworten erhofft und nicht die Bestätigung der eigenen Vorurteile.
„Wer fragt, ist für drei Minuten lang dumm. Wer nicht fragt, ein Leben lang.“ (Dalai Lama)
Könnten wir eventuell im neuen Jahr den Wert von Kompromissen wieder höher einstufen? Von Lösungen, die aus dem Aufeinander-Zugehen entstehen und der Bereitschaft, etwas zu geben, damit man etwas (zurück)bekommen kann.
Vom guten Willen, der anderen Person guten Willen zu unterstellen. Den selben guten Willen, den man für sich selbst in Anspruch nehmen will. Könnten wir eventuell versuchen, nicht den eigenen Sieg bzw. die Niederlage der anderen Person als Erfolg anzustreben, sondern das vielleicht schon ungewohnte Gefühl, dass beide Seiten beweglich und handlungsfähig sind? Wäre denn nicht auch so etwas wie ein Sprung über den eigenen Schatten eine grandiose Leistung, nachdem wir einander in drei pandemischen Jahren mit Vorurteilen und Bockigkeit die gesellschaftliche Gesundheit ruiniert haben?
Alles keine epochalen Großtaten. Sondern alles nur kleine Schritte. Langsam, zögerlich vielleicht, aber aufeinander zu.
Unbewaffnet und mit ausgestreckten Händen.